MACHT!

 

Liv führt ein scheinbar perfektes Leben mit Ehemann und Kindern in Oslo.

Sie arbeitet als Pflegerin in einem Heim und hat genügend Geld, um angenehm leben zu können.
Doch ein Haus im Wald wollte sie nicht kaufen, ohne zu telefonieren im Dunkeln nach Hause gehen, ist ebenfalls schwierig. Ihr Mann versteht ihr Verhalten nicht immer – aber er weiß auch nicht, was Liv vor einer gefühlten Ewigkeit zugestoßen ist.

Liv weigert sich, sich wie ein typisches Opfer zu verhalten. Schon zu ihrer Untersuchung nach der Vergewaltigung erschien sie tadellos geschminkt und gekleidet, beäugte die zerzaust wirkende Frau im Wartezimmer kritisch.
Was ihr geschehen ist, macht nicht aus, wer sie ist. Doch dass vielleicht gerade wegen der fehlenden Auseinandersetzung ihr Leben auch Jahre später noch immer beeinflusst wird, merkt sie gar nicht unbedingt.
 
Doch als eines Tages eine neue Patientin bei ihr auf der Arbeit auftaucht, deren Bruder vor Jahren öffentlich wegen Vergewaltigung angezeigt – und freigesprochen wurde – steht ihre Welt Kopf.
Nach und nach kommen die Erinnerungen wieder hoch und sie fühlt sich in ihrer kleinen, sicheren Blase auf einmal noch weniger sicher als zuvor.


Eine von zehn Frauen in Norwegen wird Opfer einer Vergewaltigung. (In Deutschland ist es laut verschiedenen Quellen fast jede 7. Frau, die von sexualisierter Gewalt betroffen ist!)
Diese Statistik hat unsere Protagonistin stets im Kopf, zählt in den unpassendsten Situationen die Frauen ab und fragt sich, wie vielen es noch so ergangen ist wie ihr. Und wie viele vielleicht gar nicht erst darüber sprechen und nie in dieser Statistik erfasst werden.
 
Der Gang zum Zahnarzt ist eine der größten Herausforderungen für Liv. Ohne Beruhigungsmittel und Sonderbehandlung ist hier gar nichts möglich. Und warum? Weil sie es kaum aushalten kann, dazuliegen, an die Decke zu schauen und nur darauf zu warten, dass es vorbei ist.
Von dunklen und abgeschiedenen Wegen wollen wir gar nicht erst anfangen. In allen möglichen Alltagssituationen ist Liv eingeschränkt – und dieses Gefühl beschreibt Autorin Heidi Furre sehr eindringlich und echt.

In diesem faszinierenden Buch geht es jedoch gar nicht nur um den Vorfall als solches – relativ wenig sogar.
Heidi Furre zeigt, wie die Auseinandersetzung unserer Protagonistin tief in ihrem Inneren aussieht. Wie geht sie damit um, es all die Jahre nicht erzählt zu haben? Das Wort Vergewaltigung nicht niederschreiben oder aussprechen zu können.
Auch wie sie immer wieder versucht, Erklärungen zu finden und sich sogar in den Täter von damals hinein zu denken, ist nahbar und gleichermaßen erschreckend geschildert. Es ist praktisch unmöglich, bei diesem Buch nicht emotional involviert zu sein.
 
Es fällt ihr leicht, bei wildfremden Frauen daran zu denken, wie viele laut Statistik Opfer sexualisierter Gewalt geworden sind. Doch wenn sie daran denkt, dass ihre kleine Tochter irgendwann Teil dieser Statistik wird, zerreißt es ihr Herz.
Bei Männern auf der Straße wiederum fragt sie sich, ob man ihnen ansehen kann, was sie getan haben. Sogar als sie nach all den Jahren das Leben ihres Vergewaltigers – mit Frau und Kindern im gleichen Alter wie ihre Kinder – unter die Lupe nimmt, ist sie sprachlos. Machtlos.
 
Doch Heidi Furre schildert auch, wie Liv allem zum Trotz und auch Jahre später versucht, sich ihre Macht, ihre Selbstbestimmung zurückzuerobern.


Mit den ungefilterten Einblicken in das Seelenleben und die Gedanken der Protagonistin hat Heidi Furre und von Anfang an überzeugt.
Manchmal wirken die Gedankengänge fast objektiv und sehr kontrolliert – aber genau das ist es, was Livs Leben ausmacht. Denn ohne diese Kontrolle, dieses Zurückhalten der Gedanken und Gefühle, könnte sie wahrscheinlich nicht existieren.
Sie weigert sich verbissen, wie ein klassisches Opfer zu sein, aber geheilt ist sie dadurch noch lange nicht!
Dass eine Vergewaltigung ein komplettes Leben - das gesamte Verhalten, sämtliche Gedanken – zerstört, ist hier authentisch dargestellt.

Dieses Buch ist mit unter 200 Seiten gar nicht mal so umfangreich, doch jede Seite und jeder Satz sitzt. Heidi Furre beweist, dass sie schreiben kann und bewegt mit dem Thema ihres Romans zutiefst.
Nein, ihr werdet hier nicht mit Taschentüchern vorm E-Reader sitzen – eher müsst ihr mit Fassungslosigkeit und Wut klarkommen.
Uns wird dieser Roman noch lange Zeit bewegen und nachdenklich stimmen. Wir wünschen uns, dass es vielen weiteren Leserinnen und Lesern so gehen wird.


Zitate:

„Ich, die ich so brav gewesen war, mit dreizehn schon die beleuchteten Umwege nach Hause ging, statt die Abkürzungen durch den Wald zu nehmen. Ich, die ich zu Abizeiten illegales Pfefferspray gekauft hatte. Alles umsonst.“

„Niemand bleibt nach einer Vergewaltigung liegen. Niemand. Alle stehen auf. Niemand hört danach auf, Mensch zu sein. Ich dusche, schreibe Einkaufszettel, gehe einkaufen, bestelle mir Waren nach Hause, denke an alles andere als an das eine. Ich weigere mich, liegen zu bleiben.“

„Es bereitete mir weniger Schmerzen, diese Sache beiseitezuschieben, nicht zu wissen, was ich wusste. Es war leichter, es als einen Einzelfall zu betrachten und nicht als Muster. Immer im Zweifel für den Angeklagten, immer unter der Annahme, dass falsche Anschuldigungen gemacht wurden. Not all men!“

„Alles war in bester Ordnung, niemand hielt mich an oder konnte mir ansehen, was passiert war. Alles normal. Es war völlig normal, vergewaltigt zu werden, ich hatte keine zerzausten Haare oder Blutergüsse. Eine Vergewaltigung war klein, sie passte genau in meinen Körper. Ich würde es aushalten, es mit aller Macht hinkriegen, weiterzulaufen. Mit aller Macht und aller Macht und aller Macht.“



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